Ta'al'iana Îskat

Akîbet Ni Frencaal

Unruhig schweifte der Blick Ta'Al'Ianas über das unter den Fenstern des Palazzo schlafende und doch wachende Khefu. Einzelne Lichter die in den Fenstern der Häuser brannten, verrieten der jungen Kemi, dass es noch andere unruhige Seelen gab die in dieser Nacht einfach keine Ruhe fanden. Doch vielleicht gehörten sie auch zu jenen Unglückseeligen die unter der wachsenden Kriminalität dieser Stadt zu leiden hatten. Wenngleich die Hauptstadt des stolzen Kahéts, der Smaragd des Südens, schienen die Verbrechensserien kein Ende finden zu wollen. Und nun war sie in diese Stadt gerufen worden.
Eine kühle Briese, die vom Meer auf der einen Seite den salzigen Geruch über das Land brachte, von der anderen den Geruch des Landes, der Blüten die allgegenwärtig ihren Süßen Duft abgaben, der immerfeuchten Erde. Wie lange hatte sie das missen müssen... Lächelnd wandte Ta'Al'Iana sich von der Ballustrade des Balkones ab und trat zurück in das Suite, welche man ihr zugewiesen hatte. Sie war groß genug eine ganze kem'sche Familie mit Anverwandten unterzubringen, doch ganz gemäß dem kem'schen Glauben besaß die junge Kemi nicht viel mehr als eine Leibdienerin die sie einst aus der Sklaverei freigekauft hatte und die ihr nun aus freien Dingen diente. Früher einmal hätte ihre ganze Familie diese Räumlichkeiten ausgereizt, doch nun, Jahre nach ihrer Heimkehr und dem Tode ihres Vaters, fühlte Tali einmal mehr wie einsam sie geworden war und nicht zum ersten Mal erfüllte sie dieser Gedanke gleichzeitig mit Wehmut, als auch mit der Gewissheit, dass sie alle ihrem Herzen gefolgt waren - so wie sie selbst.
Still drehte Ta'Al'Iana sich im Kreis, ließ ihren Blick über die holzverkleideten Wände streifen, die großzügige und doch geschmackvolle Einrichtung und ein leises wehmütiges Seufzen entrang sich ihrer Kehle.
"Ich wünschte du könntest hier sein, Schwester... Ich wünschte ich müsste diesen Weg nicht alleine gehen, ohne deine Nähe, die mich immer so beruhigt hat. Ich weiss nicht was sie von mir erwarten, weswegen ich hergebeten worden bin..." Still schüttelte sie den Kopf und blinzelte die Tränen aus den dunklen Wimpern. "Ich vermisse dich..."

 

***
 

Leise klopfte es an der Tür zu Ta'al'iana Zimmer. Die junge Geweihte rechnete nicht mit Besuch, fing sich aber sehr schnell wieder. "Ja, bitte?"
Es war Caja Sá'kurat, oberste Diplomatin der Heiligen Boronskirche, Äbtissin des Klostes Ujak und Enkelin des berüchtigten ehemaligen Corvikaner-Anführers Boronfried. "Sei mir gegüßt, Ta'al'iana."
Die Stimme der Priesterin, die Ta'Al'Iana so lange Zeit schon gefördert und auf ihrem nicht einfachen Weg in Diensten der Kirche begleitet hatte, klang ruhig und voll, ihre dunklen Augen strahlten Gelassenheit und Frieden aus. "Bedrückt Dich etwas?" fragte die Frau, als sie eingetreten war und die Tür geschlossen hatte. Ihr Blick ruhte besorgt auf Ta'al'Iana.
Ein flüchtiges Lächeln huschte über Ta'al'Ianas Züge, dann schüttelte sie den Kopf. "Es ist nichts... bis auf alte schwere Gedanken - du kennst mich doch Caja.. vielleicht habe ich mich nur noch nicht wieder richtig eingelebt..." Unsicher hob sie die Schultern und blickte der Äbtissin in die Augen, die einmal mehr den Eindruck auf sie machten, als wisse sie von vielem mehr als sie selbst eingestand. Ta'al'iana wusste nicht wie lange sie sie schon kannte, eine Ewigkeit schien es zu sein. Caja war einige Jahre älter als sie selbst, und strahlte eine Ruhe aus, ja fast hätte man es Weisheit nennen können, von der Ta'al'iana selbst nicht wusste, ob sie diese jemals erreichen würde.
Ein leises Lachen floss von Cajas Lippen, während sie zu einem der schweren, gepolsterten Mohagonistühle ging und sich darin niederließ. "Fast ein Jahr, daß du wieder zurück bist und noch immer die gleichen Worte. Hat Gareth dich so sehr verändert, daß deine Wurzeln dir fremd geworden sind, Ta'al'iana?" Ruhig ruhten ihre Augen auf der jungen Boroni und beinahe konnte man meinen darin etwas wie Belustigung erkennen zu können. Seufzend blickte Ta'al'iana ihre Mentorin an.
"Ich weiss es nicht...", erwiderte sie, während sie ihr zu der Sitzgelegenheit folgte, sich ihr gegenüber niederließ. "Ich glaube nicht, daß es wirklich an der Zeit in Gareth liegt."
"Vielmehr an jenen die du dort zurück gelassen hast, nicht wahr?" Von all jenen, die Ta'al'iana kannten, war Caja eine der wenigen die ihr Vertrauen genoss und um das Geheimnis WUSste, das sie seit ihrer Kindheit hütete wie einen Schatz, die sie selbst vor ihrem gütigen Vater - Boron habe ihn seelig - wie einen Schandmal versteckt hatten. Auch ohne eine Antwort der jungen Geweihten, nickte die Äbtissin und ließ ihren ruhigen Blick auf Ta'al'iana ruhen. "Wie alt ist das Kind Deiner Schwester nun? Bald müsste es doch alt genug sein, damit sie es mit auf die Reise zurück nehmen kann. Denkst du nicht, daß sie dir folgen wird, damit ihr wieder zusammen sein könnt?" Ihre Worte weckten in Ta'al'iana den Gedanken an ihren letzten Tag in Gareth.
"Bald wohl einen Götterlauf... es war nicht mehr weit bis zur Niederkunft als Vater und ich abreisten", erwiderte sie und schloß einen Moment die Augen, um jenen fast schmerzenden Gedanken zu bannen, nur um Caja dann wieder anzusehen, das Thema auf etwas anderes zu lenken. "Willst du mir nicht lieber sagen, weshalb wir von Ujak hier her gekommen sind?"
Caja erhob sich, trat auf Ta'al'iana zu und legte ihr die Hand auf die Schulter. "Der Rabe wird auch dein Geschick lenken, so daß du letztlich das finden wirst, was dir Frieden gibt. Du mußt Ihm nur vertrauen." Die Äbtissin lächelte und wandte sich dem Fenster zu.
"Khefu", sagte sie, "...unsere Hauptstadt. Man kann viel über sie sagen, viel Schlechtes, und doch ist sie das Herz Kemis, und jeder und jede von uns liebt sie, wo auch immer unsere Wurzeln sein mögen. Es ist vielleicht die schwierigste Aufgabe überhaupt, dieses Herz zu schützen und zu pflegen, eine Aufgabe, der sicherlich nicht viele gewachsen sind. Die Liste derjenigen, die hier scheiterten ist lang, und so muß nun endlich eine Lösung gefunden werden, die von Dauer, Bestand und Weisheit ist..." Caja wandte sich zu Ta'al'iana um. "Deshalb sind wir hier. Wir sind hier, weil ich weiß, daß du die Richtige bist, dieses Herz zu behüten." Caja lächelte noch immer. "Ta'al'iana Îskat, Tochter dieses Landes, ich bitte dich darum, die Ernennung zur Akîbet Ni Khefu anzunehmen."
Überrascht blickte Ta'Al'Iana zu Caja und ehrliches Erstaunen zeichnete sich auf ihren Zügen ab, als sie die Worte der Äbtissin vernahm. "Ihr wünscht, dass ich... Akîbet werde?" Von allen Dingen die sie bereits mit der Äbtissin erlebt hatte, von allen Geheimnissen die diese Frau zu hütete, hätte sie dieses am Wenigsten für den Grund ihres Hierseins gehalten. Sie war in dem Haushalt eines Akîbs aufgewachsen und durch dessen Tun mit der Leitung eines Lehens vertraut, aber... es war in der Wildnis gewesen, dort wo es weit mehr des undurchdringbaren Dschungellandes gab, denn in den anderen Regionen Tárethons. Doch dies hier war Khefu - das lebendige Herz des Káhets und eine größere Verantwortung als Ta'al'iana sich es jemals hätte träumen lassen. Sie hatte die Geschichten der unglückseligen Akîbs und Akîbets gehört, die einst über diese Stadt wachten, ebenso wie von dem brummigen Stadtmeister, der mehr Zeit darauf verwendete die Beschlüsse des amtierenden Akîbs anzufechten, denn konstruktive Arbeit zu leisten und nun sollte sie sich in diese Reihe eingliedern?


Als hätte Caja ihre Gedanken erraten, erschien das gütige Lächeln erneut auf ihren Zügen. "In der Tat, ich wünsche es. Aber nicht im Sinne eines Befehls, sondern im wahren Wortsinne eines Wunsches." Caja lachte kurz. "Ich bin mir sicher, dass du aus dieser Reihe herausragen wirst, Ta'al'Iana. Wiewohl auch die Räbin und die Königin Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten haben, denn sie waren meinem Vorschlag nicht abgeneigt, als ich ihn unterbreitete. Du hast in Gareth vielerlei gelernt, dass dir hier nützlich sein wird - du musst nur darin vertauen."
Langsam nickte Ta'al'iana und holte tief Luft. "So sei es... Ich... Ta'al'iana Îskat nehme die Ernennung zur Akîbet ni Khefu an..." Erst als diese Worte ihre Lippen verlassen hatten schien die Anspannung aus ihrem Körper zu weichen und leiser fügte sie an. "Was auch immer damit auf mich zukommen wird..." "Das weiß der Rabe allein", antwortete die Äbtissin ernst. "Aber bitte vergiß nie, daß du nicht alleine bist. Ich verfolgte deine Entwicklung immer aufmerksam und werde das auch weiter tun. Ich bin interessiert darin, dich zu fördern und möchte, daß du dies weißt. So wirst du dir sicher sein können, Verbündete zu haben."
Dann wandte sich Caja ab, hielt an der Tür noch kurz inne und drehte sich zur neuen Akîbet um. "Ich werde noch zwei Tage in der Stadt verweilen und dann einige Brüder auf der Memento Mori treffen. Zögere nicht, mich aufzusuchen, falls du es für nötig hälst." Erneut lächelte Caja. "Der Rabe segne dich." Dann verließ sie das Zimmer.

 

***
 

Geschäfte... Geschäfte... Immer waren es wichtige Geschäfte zu denen sein Herr berufen war. Zweifelnd blickte der Secretarius auf das Schreiben welches gekommen war. Ta'al'iana Îskat... Der Name sagte ihm nichts, bis auf ein paar dunkle Erinnerungen - hatte es nicht einst einen Akîb diesen Namens gegeben? 

Sorgfältig legte er den Brief zurück auf den Stapel, zu oberst, damit der Herr ihn gleich sah sobald er von seiner Reise aus Sarslund zurück war. Oder ob er ihn doch öffnen sollte um nachzusehen ob es so wichtig war, dass der Herr sofort zurück kehrte? Nachdenklich wog er den Kopf hin und her. Wenn er einen Boten nach ihm schickte, dann würde der Herr sicher dankbar sein... zumindest wenn es wichtig war. Anderenfalls... Der Secretarius schauderte... manchmal konnte der Herr recht ungehalten werden, besonders wenn es um geöffnete Post ging. Besser vielleicht... er wartete doch auf die Rückkehr des Herren und unterrichtete statt dessen den Absender darüber, dass sich Boronîan Paestumai derzeit nicht in Khefu aufhielt. Ja, so würde es am Besten sein... Zufrieden nickte Shepses'ká, Secretarius Seiner Erhabenen Hochwürden, Erlaucht.

 

***
 

Zurück in ihren Gemächern von einem Tag voller Aufregungen, Herausforderungen, und, so gestand es die Tochter ihrer Kultur nur im Gebet ein, Ängsten, mit denen sie sich nun auseinandersetzen musste. Sicher, Ta'al'iana war immer ehrgeizig gewesen, wie alle in ihrer Familie, aber eben auf anderen Gebieten, nicht in dieser Form. Erst jetzt stellte sie fest, wie viel ihr diese Schritt bedeutete, was sie da, so schien es ihr in ihrer Erinnerung, nur einen Wimpernschlag in der Vergangenheit, angenommen hatte. Sie war nun selbst eine Akîbet. Aber nicht irgendeine, sondern eine Akîbet ni Khefu. Nichts war dort von einer entfernten Provinz, wo der Titel länger war als die Anzahl der Minuten die man wohl bräuchte um seine Untertanen zu zählen. Nein, es war Khefu selbst. Und mit Erstaunen stellte sie fest wie stolz es sie machte, den Namen Îskat mit einer solchen Zier zu bedenken, auf diese Weise Erinnerung zu finden bei zukünftigen Generationen ihrer Abstammung. Nein, diesesmal war es nicht die bescheidene Freude einer Dienerin des Schweigsamen, sondern die alte und ewig junge Freude, mit einem Hauch Dekadenz ihrer Jugend, die sie nun empfand...und die nur Augenblicke später in sich zusammenbrach wie ein Kartenhaus im Windzug eines gerade geöffneten Fensters. "Ich bin eine Akîbet ni Khefu. Ich bin eine Îskat. Ich bin hier...allein...." Wie sollte sie diese Aufgabenfülle, die sie soeben innerlich noch so bejubelte, nur schaffen ohne die Zeit der Hemmnisse, der Verzweiflungen, die ohne Frage kommen würden, mit jemandem teilen zu können, der ihr einen sanften Kuss auf die Wange hauchte und mit einem zärtlichen Schimmer im Blick leise sagte "Du schaffst das, Tali...ich bin bei dir." Wie nur ?

Ihr Blick schweifte zurück zu der Staffelei. Wieder, wie so oft in solchen Situationen, erschien ihr ein Bild vor Augen, schwarz in schwarz gezeichnet, mit schwarzen Farben ausgefüllt. So ging sie hinüber zu dieser Staffelei, die wie für andere das Tagebuch für sie der Ort war, an dem sie sich selbst am nächsten sein konnte.
An der Tür klopfte es zaghaft, und ihre Dienerin öffnete die Tür vorsichtig, auf dem Arm ein kleines Tablett mit diversen Dingen, die wohl dazu dienen sollten, Ta'al'iana zu kräftigen. In den Jahren hatte die Dienerin gelernt darauf zu achten, dass Ta'al'iana regelmäßig etwas zu sich nahm, einfach weil es ihr seit den Tagen in Gareth nicht mehr wichtig zu sein schien und sie so nicht selbst darauf achtete. Mit einem sachten Lächeln dankte Ta'al'iana ihrer Dienerin, die sah, dass ihre Anwesenheit hier nicht erwünscht war, und sich so tonlos, wie sie gekommen war nun auch wieder entfernte.
Ta'al'iana griff nach einer Frucht, biss gedankenverloren ab und irgendwie war es doch nicht wie sonst, sie konnte das Bild in ihrem Kopf noch nicht genug fassen um es dann auf die Leinwand zu bringen. Etwas fehlte, so sehr und doch so undurchsichtig, dass sie es nicht benennen konnte. Sie schloss die Augen, wie sie es gelernt hatte, um sich selbst deutlicher betrachten zu können, und nach einigen Minuten erkannte sie, was ihr fehlte. Eine alte Antwort eigentlich auf eine täglich, fast stündlich gestellte Frage. Die Flüssigkeit, mit der sie nun ihr Schwarz verdünnte, waren die Tränen, die auf die Palette tropften. Wie schon so oft zuvor.