Regionalkirchen

Durch Tradition (Yleha) und schiere Entfernung (Waldinselkolonien) haben sich im Kemi-Reich Regionalkirchen entwickelt, die zwar formal nach wie vor Teil der Boronstaatskirche sind, sich aber in einigen Teilaspeketen doch von dieser unterscheiden. Während auf den Inseln fundamentalistische Strömungen durch die unwirtliche Umwelt und das harte Leben mehr und mehr Zulauf erfahren, bestimmt in Yleha der liberale und eigenwillige Boronkult des "Weißen Raben" den Alltag der Gläubigen.

Die Kirche auf den Inseln

Seit mehreren Götterläufen hat die Boronstaatskirche ihre Stellung auf den zum Káhet ni Kemi gehörenden Waldinseln gefestigt und ausgebaut. Dazu hat einerseits - in regelmäßiger Absprache mit den jeweils zuständigen Akîbs - das von Mehib Kâl'Tân für das gesamte Überseegebiet des Königinnenreichs koordinierte Vorgehen der Kirche, andererseits die wohlwollende Förderung seitens der Krone und die großzügige materielle Unterstützung durch die Familie Al'Plâne beigetragen. Da die Boronstaatskirche in Kemi eine kaum zu unterschätzende Rolle für die Einheit des Reiches wie für den Zusammenhalt der Bevölkerung spielt, liegt ihre starke und prägende Präsenz gerade in dem erst allmählich besiedelten Neu-Prem sehr im Interesse der Nisut sowie der mit der Erschließung des gesamten Inselterritoriums betrauten Al'Plânes.
Hier seien nun zunächst einige allgemeine Züge der Entwicklung skizziert, bevor die jeweilige Situation eines jeden Eilands knapp dargestellt wird.

 

Für das gesamte Inselgebiet ging es anfänglich schlicht darum, die Geweihten so zu verteilen, dass die Bevölkerung aller Siedlungen einen Boroni zumindest in ihrer Nähe wusste; dass sich also wenigstens einer der Diener Borons auf einer jeden größeren Insel aufhielt. Sodann sollten diese dort, wo Tempel oder Schreine des Herrn Boron zumeist wegen der Führungslosigkeit der Gläubigen vernachlässigt waren für deren Instandsetzung sorgen und die Männer und Frauen des rechten Glaubens wieder an die gebotene Pflege des Kultes heranführen. In einem letzten Schritt, der auch der aufwendigste und langwierigste war, sollten an einigen wenigen Stätten neue Schreine oder Tempel errichtet werden, wo für eine größere Anzahl von Boronfürchtigen kein Versammlungs- oder Verehrungsort zur Verfügung stand.

Heute verrichten unter den gut 5500 Bewohnern der Inseln 28 Geweihte ihren Dienst - von denen einer der Mehib (Kâl'Tân), einer der Abt des Noionitenklosters Morek (Logoran von Selem) und eine die Leiterin Seminars (Selina Horas) ist. Es gibt 9 Tempel, von denen das ambitionierte Vorhaben in Sefechnu Sebá allerdings noch nicht vollendet ist, sowie 12 Schreine. Die Beziehungen zwischen den jeweils zuständigen königlichen Verwaltern und den vor Ort wirkenden Boronis sind, von der Sondersituation im mehrheitlich von Novadi bevölkerten Mekabta abgesehen, sehr gut; manchmal liegen geistliche und weltliche Macht gar in der gleichen Hand.

 

In nur zwei Orten konzentriert sich die Bevölkerung der Insel Pet'hesá: dem Hauptort Tares und dem eher verschlafenen Fischerdorf Ychet. Das prosperierende Tares beherbergt alle wichtigen Einrichtungen der Insel, darunter freilich auch ein kleines, aber repräsentatives Haus des Boron. In ihm versehen zwei Geweihte ihren Dienst - sie stehen den Gläubigen zur Verfügung und stehen dem Akîb im Bedarfsfall zur Seite. Der jüngere von ihnen fährt mittels der stets zwischen beiden Orten verkehrenden Fischerboote längs der Küste nach Ychet, um nach den dort lebenden Menschen zu sehen, sich ihrer Sorgen anzunehmen und festliche Ereignisse zu leiten. Dort hält er sich ungefähr die Hälfte seiner Zeit auf.

 

Nachdem die Kurie in Laguana 26 S.G. beschlossen hatte, die Inseln zu einer eigenen Ta'mehib zusammenzufassen und sie im Akîb ni Aeltikan, dem Boroni Kâl'Tân, die für deren Leitung geeignetste Person sah, wurden die sich bereits seit einiger Zeit hinziehenden Umbauarbeiten im Stadtbild von Taris noch um ein weiteres Projekt ergänzt: gegenüber des Hauptortes Aeltikans, jenseits der kleinen Hafenbucht, wurde ein repräsentatives Haus für den künftigen Mehib ni Neu-Prem errichtet, wohin Kâl'Tân unmittelbar nach dessen Fertigstellung umzog. Der neue Tempel zu Taris, der erst einige Zeit später vollendet werden konnte und auch Räumlichkeiten für den örtlichen Geweihten bereitstellte, wurde daher erst von jenem Boroni bezogen, der sich nunmehr anstelle Kâl'Tâns der Einwohner von Taris annehmen sollte.
Die beiden rund 100köpfigen Gemeinschaften in Meden und Kery wissen sich ebenfalls in der Obhut je eines eigenen Geweihten, deren Aufgabe freilich auch die Pflege der dortigen Schreine umfasst. Diese recht gute kirchliche Infrastruktur geht auf jene Zeit zurück, als Kâl'Tân noch ausschließlich für Aeltikan zuständig war und ihm neben der allgemeinen Entwicklung der Insel auch die Sorge um das Seelenheil der Bewohner am Herzen lag. Sie hat sicher ihren Beitrag dazu geleistet, dass die Kurie auf ihn aufmerksam wurde.

 

Die Hauptstadt Marlans, Re'Cha, bildet den kulturellen und wirtschaftlichen Mittelpunkt von ganz Chrysemis - und wird, in Anlehnung an die am meisten entwickelten Gebiete in Djerres, auch das Plâne des Nordens genannt. Zwei Boronis kümmern sich hier um den Tempel und die Gläubigen. Dadurch, dass Schiffe, die vom Festland kommen, häufig zunächst das quirlige Re'Cha anlaufen, kommt ihnen auch eine wichtige Brückenfunktion für die Inselkirche zu: hier gilt es all jene Informationen vom Festland aufzunehmen, die nicht über die offiziellen Kanäle direkt an den Mehib gerichtet werden und die so manches Mal erst zu einer angemessenen Einschätzung der Situation beitragen oder den Blick der Festlandbewohner auf die Inseln freigeben. Auf der ungleich größeren Hauptinsel der Ta'Akîb, Mikkan, befinden sich die Orte Demy und Mechat, in denen jeweils ein Geweihter den Glauben der Bevölkerung stützt und sich um die Pflege eines Schreins kümmert.

 

Die Zweiinsel-Ta'Akîb Benbukkula/Ibeklaweist die geringste kemsche Bevölkerung auf, so dass hier sehr vertraute Verhältnisse bestehen. Der Boroni Benbukkulas (Royan Mezkarai) ist zugleich Akîb der überschaubaren Provinz; neben den Verwaltungsaufgaben widmet er sich den Belangen der Gläubigen und kümmert sich um den Kult im kleinen Tempel zu Kemhaven sowie den Schrein in Boronsport. Solange die Siedlung Rhonda auf Ibekla bestand, hatten die dortigen Bewohner einen eigenen Geweihten: ein Luxus, der sich nur dadurch rechtfertigen ließ, dass der Ort - als einzige Ansiedlung jener Insel - ziemlich abgelegen war und ein recht eigenständiges Dasein führte. Seitdem Rhonda, um des Friedens mit den Waldmenschen willen, aufgegeben wurde und seine Einwohner nach Benbukkula gezogen sind, ist diese einstmals beschauliche und auch für ältere Geweihte geeignete Aufgabe entfallen.

 

Morekist eines der Gebiete, in denen sich die Kirche in den letzten Jahren am meisten engagiert hat. In unmittelbarer räumlicher Umgebung des auf einem Hügel gelegenen Noionitenklosters sollte nach dem Willen des Mehibs Kâl'Tân ein Zentrum der Inselkirche entstehen. Auf dem Hochplateau in der Nähe des Ortes Morek, wurden 29/30 S.G. drei Bauvorhaben verwirklicht: eine Kaserne für das auf den Inseln stationierte 33. Banner des Laguanerordens, ein Gebäude, in dem die Inquisitionsrätin ni Neu-Prem mit ihren wenigen Mitarbeitern ihren Dienst verrichtet, sowie ein kleines Haus für das Seminar der Kirche Neu-Prems, in dem die künftigen Geweihten auf ihre Aufgaben vorbereitet werden. Diese insgesamt vier kirchlichen Institutionen haben große Bedeutung für die Kirche auf den Inseln, wirken sich jedoch - allein schon wegen der absichtlich etwas abgeschiedenen Lage - wenig auf das Leben der Menschen in der Ta'Akîb aus. Für die Menschen in Morek ist der im FTR 30 S.G. eingeweihte Tempel weitaus bedeutsamer, der schlicht, aber gepflegt in einem Bürgerhaus untergebracht ist. Der hier wohnende Geweihte ist auch für die Bewohner der anderen Orte der Ta'Akîb zuständig, die er jedoch nur in größeren Abständen besuchen kann.

 

Die mit Abstand zivilisierteste Überseeprovinz ist die Insel Cháset. Auf ihr kümmern sich die meisten Geweihten um die dort wohnenden Räblein. Die vielen Straßen und kleinen Ansiedlungen zeugen von der guten Erschließung des Landes, doch sie zwingen die Kirche auch zu einer aufwendigen Sorge um die Menschen: denn in vielen der kleinen Orte ist noch nicht einmal daran zu denken, einen eigenen Schrein zu errichten, geschweige denn dort einen Boroni fest leben zu lassen. Daher kommen die meisten Geweihten auf Cháset ihrem Dienst von einem der ihnen anvertrauten Weiler zum anderen ziehend nach.

 

Ganz anders als in den übrigen Gebieten Neu-Prems stellt sich die Situation in Mekábtá dar. Die - mit Ausnahme zweier Eingeborenendörfer an der rahjawärtigen Küste - nahezu ausschließlich von Novadi besiedelte Ta'Akîb ist eine besondere Herausforderung für die Missionsarbeit der Kirche. Einerseits war es ausgeschlossen, darauf zu verzichten, den wahren Glauben auch in diese Region zu bringen, andererseits musste das Ausbrechen eines Bürgerkrieges verhindert werden: so einigten sich Akîb Mahmut ben Abdallah und Mehib Kâl'Tân auf einen Kompromiss, der auch die langsame Annäherung der Gläubigen untereinander ermöglichen sollte.
Die Kirche gab ihren Tempel inmitten des novadischen Yáchi auf und konnte dafür vier Meilen efferdwärts, direkt am Wadi Rekádju und unweit der Stelle, an der die große Handelstraße jenen Fluss überquert, eine komplette Siedlung errichten. Seit wenigen Götterläufen liegt dort nun Mes'Monthu. Ein aus dem Nichts entstandenes Dorf: reiche und einflussreiche Gläubige stellten der Kirche das Geld für die Verwirklichung des Vorhabens zur Verfügung; unter armen Festlandfamilien, die sich freiwillig für die Erschließung des Landes gemeldet hatten, wurden besonders glaubensfeste als Siedler ausgesucht. Auf sie wartete harte Arbeit, doch konnten sie sich jeder Unterstützung von Außen gewiss sein.
Nach der ersten Aufbauphase wurde der Ort - der über eine eigene Anlegestelle verfügt und rund 80 Einwohner zählt - samt Tempel im FTR 30 S.G. eingeweiht: hier ist der Boroni (Pet'nehem) auch zugleich der Dorfvorsteher. Bis heute haben sich allerdings kaum Kontakte zu den Bewohnern Yachis entwickelt. Doch zumindest das bisher friedliche Nebeneinander lässt hoffen, dass im Laufe der Zeiten die gemeinsame Besiedlung Mekábtás als natürlich empfunden wird und sich die rastullahgläubigen Mekábtis als Bewohner unter anderen im Káhet ni Kemi verstehen.

 

Sefechnu Sebá, der Hauptort Tásebás, ist Schauplatz des anspruchsvollsten Projektes der Inselkirche. Lange Zeit hatte eine riesige Bauruine in der Nähe des Ortes gestanden, die von einer großen Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit zeugte: Bereits nachdem die riesigen Außenmauern errichtet worden waren, fehlten die Mittel um den Tempelbau fortzuführen. Entmutigt von den noch unabsehbaren, ausstehenden Arbeiten, wurde das Vorhaben eingestellt und die Natur begann, den ihr abgerungenen Platz zurückzuerobern.
Nach seiner ersten Reise nach Aáresy nahm sich Kâl'Tân vor, das lange brachliegende Projekt wieder zu beleben. Da jedoch nicht genügend Mittel vorhanden waren, um für alle anfallenden Kosten aufzukommen, sann er - in Absprache mit der ersten Rabendienerin - auf eine andere Möglichkeit... Baumaterial, Verpflegung und Unterkunft würde die Kirche stellen können, doch die Arbeitskraft musste von den Gläubigen kommen: So verkündete Boronya von Nedjhit schließlich im FTS 27 S.G. einen Ablass für alle Räblein, die sich am Bau des großen Tempels zu Sefechnu Sebá mit den ihnen jeweils eigenen Fähigkeiten beteiligen würden. Der Strom an Menschen, die aus allen Teilen des Reiches voller Glaubenshoffnung nach Tásebá aufbrachen, war und ist beträchtlich: Zwei Schiffe setzt die Alleinseligmachende Boronstaatskirche bis heute ununterbrochen ein, um willige Gläubige von den Inseln, vor allem aber vom Festland, zum Ort des Bauvorhabens und zurück zu transportieren. In den letzten Götterläufen hat es ein ständiges Kommen und Gehen großer Scharen gegeben, mit den damit einhergehenden Schwierigkeiten und Unruhen. Nicht zuletzt die verschiedenen kulturellen Gruppen, die hier wie in einem Schmelztiegel aufeinandertreffen, sind manches Mal von Kreaturen des Bösen - insbesondere im Jahre 28 S.G. - gegeneinander aufgehetzt worden. Seitdem ist das Werk am größten Haus des Herrn Boron in Neu-Prem zwar gut vorangekommen, doch gerade die derzeit anstehenden qualifizierten Innenarbeiten werden noch längere Zeit in Anspruch nehmen.
Die fünf Boroni auf dem weitläufigen Territorium der Ta'Akîb teilen sich die Arbeit: einer kümmert sich um die Ta'Sah Sjepengurken; zwei bereisen die Plantagen im Süden Aaresys; zwei sind fest in Sefechnu Sebá, von denen einer (Boromeo Uludaz) sich gar ausschließlich Arbeitern und Arbeiten am Tempelbau widmet.

Die ylehische Kirche

Nun, nach 50 Jahren intensiver Forschungen, zahlloser Expeditionen in den dampfenden Dschungel zu den heiligen Plätzen der Catco und unzähligen Stunden in den weitläufigen Archiven des Klosters Al'Areal, in dem fast die gesamte Geschichte Ylehas in Tausenden von Schriften nachvollziehbar ist, nun endlich ist ein weiterer Schleier von der mystischen Entstehungzeit Ylehas genommen. Bruder Gu'janô Bíl'jeôt von Al'Areal, oberster Bibliothekar und einziger Kirchenhistoriker von Yleha hat nun sein Lebenswerk vollendet. In 10 Bänden, allesamt in feinstes Iryanleder gebunden, jede Pergamentseite mit der engen, zierlichen Schrift des Bruders beschrieben und mit kostbaren Illustrationen versehen, steckt das gesamte Wissen über Vergangenheit der ylehischen Boronsverehrung. Doch die Bücher sind viel mehr als eine bloße Aufzählung von dem, was sowieso schon bekannt war, denn Bruder Gu'janô hat es gewagt, die bekannten Lehren in Frage zu stellen und ist so auf ganz neue Erkenntnisse gestoßen, die endlich die vielen offenen Antworten auf das "Warum" in der ylehischen Kirche liefern.
Bruder Gu'janô wird nun eine kurze und verständliche Zusammenfassung über seine wichtigsten Erkenntnisse abgeben.

 

"Nun, um meine Forschungen zu verstehen, muß ich erst einmal genau erklären, was ich erforscht habe. Es ist nicht so, daß ich der gesamten Geschichte nachgespürt habe, doch die Frage, warum in meiner Heimat noch vor wenigen Jahrzehnten Boron auf andere Art und Weise verehrt wurde, als zum Beispiel im Nistutreich, machte es unvermeidlich, die Geschichte nach der Antwort zu durchforschen. Und ich wurde fündig!
Zuerste will ich berichten, was die Unterschiede in beiden Religionen, und es handelt sich hierbei um zwei unterschiedliche Religionen, waren. Wer sie heute vergleicht, wird äußerlich kaum einen Unterschied ausmachen können, da schon lange vor dem segensreichem Beitritt meiner Heimat zum Nisutreicht begonnen wurde, die religiöse Kultur anzugleichen. Dieser schleichende Prozeß begann wohl mit dem ersten schweren Überfall der Al'Anfaner auf meine Heimat und ist zur Zeit noch im Gange, was sich jedoch nicht verurteile, denn steter Wandel und vor allem die Anpassung an die jeweilige Zeit sind notwendig für eine Religion... aber ich schweife ab!
Wie schon gesagt, gibt es heute kaum noch Unterschiede zwischen der Verehrung der heiligen Raben in Kemi und in Yleha, auch wenn einzelne Riten und Gebetstexte in meiner Heimat auf eine andere Zeit hindeuten, in der der heilige Rabe noch weiß und die kultischen Handlungen vor allem von lockerer, ungezwungener Fröhlichkeit und nicht von glühenden Eifer bestimmt waren und schon vor den ersten Ylehi von den Eingeborenen, den Catco in ähnlicher Weise vollzogen wurden. Dies sind auch schon die drei Hauptunterschiede, die es zwischen den beiden Kulten gab und die in Resten noch heute bestehen. So zeigt das Wappen Ylehas noch heute, auch wenn es wegen der politischen Situation kaum noch benutzt wird, einen weißen Raben auf schwarzem Grund. Dies ist keine, wie lange Zeit geglaubt, einfache, heraldische Farbinvertierung ohne weiteren Sinn, sondern hat einen ernsthaften, religiösen Hintergrund. Über ein Jahrtausend lang, wurde Boron in Form eines weißen oder silberne Raben, in früheren Zeiten sogar in Form eines mystischen, nicht näher bestimmbaren Vogels angebetet.
Der mystische König Tén'asch, der vor fünfhundert Jahren das Königreich Yleha im göttlichem Rausche vom zusammenbrechenden Stammland Kemi friedlich getrennt, und dann eine eigene, die ylehischen Kirche erichtet haben soll, hat meinen Forschungen nach wahrhaftig existiert, doch sind die Wundertaten, die ihm unterstellt werden, wohl nichts anderes als Märchen. Bewiesen ist jedoch, daß er der erste, und weitaus mächtigste König der Ylehi war und zusammen mit seinem Bruder, dem Hohepriester Ta'nîkrot'h das neue Königreich geordnet, befestigt und lange Zeit regiert hat. Ta'nîkrot'h soll zudem die Religion vereinheitlicht, in ihrer späteren Form ausgereift und die ersten klassischen, ylehischen Tempel gegründet haben, der Haupttempel war wohl das heutige Kloster Al'Areal. Fundstücke, alte Schriften und erhaltenden Zeichnungen unterstützen diese Behauptungen dermaßen, daß Ta'nîkrot'h ohne weiteres als Vater des klassischen, ylehischen Boronkultes, der aus dem Lehren von Peri I. hervorgegangen war und fast ein halbes Jahrtausend neben ihm existierte, bezeichnet werden kann.

 

Von beiden Brüdern existieren heute nur noch Legenden, die durch historische Belege zum Teil verifiziert, zum Teil widerlegt werden. Das mystische Grab von Tén'asch, das noch heute von seinem Bruder Ta'nîkrot'h und durch Generationen von auserwählten Wächtern bewacht werden soll und auf der Insel Ta' Hôthka vermutet wird, wurde bis heute nicht gefunden.

Der heilige Rabe oder Vogel wurde mit fröhlichen Festen vor allem als Schlaf- und Traumbringer verehrt, er war jedoch auch der Hüter über Rauschkräuter, Rum und andere berauschende Dinge, über Tanz und Fröhlichkeit und über die Ekstase, die als eine Art Wachtraum galt. Enthaltsamkeit, spezielle Meditationen und durch spezielle Tränke hervorgerufene Traumlosigkeit galt dagegen als Reinigung und Selbstgeißelung, so soll zum Beispiel Ta'nîkrot'h die göttlichen Vorgabe zum Standort des heutigen Klosters Al'Areal erst erhalten haben, nachdem er zwei Wochen in einer Höhle gewacht, gefastet und meditiert hatte. Und noch heute ist es in Al'Areal üblich, Novizen vor der Weihe einen Tag und eine Nacht lang meditieren zu lassen.
Unter dem weißen Raben existierten die anderen elf Götter, sie waren jedoch niemals so hoch geschätzt wie er. Dazu gab es noch diverse Nebengottheiten, allesamt Tiergeister, die zum größten Teil aus den Naturreligionen der Catco übernommen wurden. Sie ordneten sich ebenfalls dem weißen Raben, als König der Geister und Träume unter. Die wichtigsten unter ihnen waren Galâ-tuk Meh'a, die Schattenkatze, die Krieg und gewaltsamen Tod, aber auch Würde und Mut verkörperte und als Vollstreckerin des weißen Rabens geachtet war, Ta'ah'a, die blaue Echse, die Fleiß, Klugheit, Frömmigkeit und Friedfertigkeit verkörperte und die im Wappen der Königsfamilie zu finden war und Na'tûm, der unsichtbare Affe, der den Feldern und Menschen die Fruchtbarkeit brachte und ihnen das Lachen lehrte.

In meiner Heimat ist der Tod noch heute nicht viel mehr als ein ewiger Schlaf, bei dem das geführte Leben durch süße Träume oder schreckliche Alpträume entlohnt wird und bei dem der Körper zerfällt, um der unsterblichen, träumenden Seele den Zugang zur Wiedergeburt oder zum Paradies zu ermöglichen. Demnach ist es logisch, daß nur besonders verdienten und wichtigen Personen sowie Sündern und Verbrechern eine Mumifizieren zuteil wurde. Letztere mußten auf ewig ihre strafenden Alpträume erleiden, da ihr Körper vor dem Zerfall geschützt und ihre Seele so gefangen war, Erstere sollten ihre lohnenden Träume so lange wie möglich genießen, bis die absichtlich unvollständige Mumifizieren doch noch zum verzögerten Zerfall und somit zur Freigabe der Seele führte.

 

Doch all dies war schon mehr oder weniger bekannt und die Frage, warum ein weißer Rabe als Gott der Träume angebetet wurde, konnte noch nicht beantwortet werden. Dazu muß ich weiter in die Vergangenheit und in die Mythen der Catco, jenes Wildenstammes, der als einziger in Yleha lebt und schon vor den Weißen gelebt hat, bildlich gesprochen, zurückreisen, da aus einer Zeit vor Ta'nîkrot'h keine aussagekräftigen Zeugnisse von Nichtcatco erhalten sind. Nach einer Legende der Catco, in der übrigens auch Ta'nîkrot'h und sein Bruder benannt werden, siedelten vor der Gründung des Königreiches Seefahrer aus fremden Landen und Kemi an der Küste der bucht von Yleha und bauten dort zwei Städte auf: Yleha und das untergegangene Shilaya. Bald darauf trafen die ersten Missionare auf die Catco und waren sogleich von einem ihrer Götter verzückt, meinten sie doch, in Par'Parwis'nar, dem weißen Traumvogel ihren Gott Boron wieder zuerkennen. Die Catco freuten sich ihrerseits auch, als ihnen gesagt wurde, daß Boron ihr Traumvogel sei und empfingen die Siedler daraufhin mit offenen Armen als Brüder auf ihrem Land. Die Ylehi verschmolzen mit der Zeit die beiden Religionen und Götter zu ihrem Hauptgott.

Somit sind nun die drei wichtigsten Fragen in der Geschichte der ylehischen Kirche geklärt, der heutige, heilige weiße Rabe Ylehas stammt von einer Catcogottheit ab, daher ist er weiß, vor allem der Gott der Träume und wird auch von den Wilden verehrt. Damit schließe ich meinen kurzen Bericht, der nur die Oberfläche meiner Erkenntnisse ankratzen konnte und doch einen tiefen Einblick in die Geschichte meiner Heimat gewährt hat, in eine Geschichte, die weder von den blutigen Al'Anfanern, noch von den neuen Brüdern aus Kemi oder von gierigen da Vanchas in Vergessenheit gestoßen werden konnte und nun auch nie wieder vergessen werden kann, da ich sie aus der Umklammerung der dunklen Vergangenheit gerissen und in meinen Büchern aufgeschrieben habe."

 

Wir bedanken uns bei Bruder Gu'janô und wünschen ihm noch ein langes, erfülltes Leben.