Pet'nehem
Sah ni Mes'Monthu, Tempelvorsteher zu Mes'Monthu
"Und fragt ihr, warum uns der Herr Rastullah Seine Gesetze gab? Er tat es, um uns abzugrenzen von jenem unwürdigen Gewimmel der Gottlosen und Ungläubigen, die vor Geistern und Dämonen auf dem Bauche liegen und den Dreck des Bodens schlucken. All ihr Gerede von zwölf Göttern und urzeitigen Götterkämpfen ist wie das Stammeln des Wahnsinnigen, der die Schwingen der Wüstenfledermaus spürt - denn außer dem Herrn Rastullah gibt es keinerlei Götter, sondern alles ist Dämonengezücht und Menschengespinst. Wir sind die Beni Novad und dienen dem Herren der Schöpfung, der uns zu seinen Dienern erwählte, um all jene zu strafen, die seinen Willen missachten und seine Herrschaft leugnen. Wenn wir nach seinen Gesetzen leben, wie er sie uns wörtlich übermittelte, wird uns zuteil werden der Sieg über die Gottlosen, wenn wir aber jenen Sündhaften folgen, die Anpassung und Überarbeitung der Göttlichen Offenbarung predigen, wird uns der Herr Rastullah davonwischen von seiner Schöpfung wie der Sturm hinwegfegt den grünen Heukäfer.
Deshalb wisset: Als der Herr Rastullah seine Gesetze formulierte, gab er bei jedem Wort seine göttliche Gnade hinzu, auf dass es in seiner göttlichen Gewalt nicht den Menschen zerschmettere. So wisset denn auch, dass man diese Gesetze wörtlich zu befolgen hat und keine Abweichung durch Menschengeist zulassen darf. Denn bleiben wir streng zu uns und unseren Pferden, unseren Sklaven, unserem Vieh und unseren Frauen, so wird uns der Herr die Ungläubigen ausliefern, auf dass wir sie hinabschicken in die Niederhöllen - dort aber wird man sie verbrennen, erwürgen, neunteilen, schinden."
Lange Zeit schon kratzte die Feder von Bruder Pet'nehem über das Pergament und übersetze die Worte des Hohen Mawadli zu Keft in die kem'sche Sprache. Die Kerze, welche sein Schreibpult im Skriptorium des Klosters Laguana erhellte, war nun auch schon fast abgebrannt. Der junge Kemi fuhr sich mit den Händen über die müden Augen. Immer wenn er die Worte der novadischen Fanatiker in das Kem'sche übersetzte, drängt sich ihm die Frage auf, was diese Worte denn von denen eines Bruder Boronfried oder einer Schwester Mara unterschied. Diese Worte von Verdammung, Dämonen und Gottlosen... wie viel mehr Liebe und Güte war doch eigentlich in den Verheißungen des Herrn zu finden? Und so war es auch in der Sprache der Tulamiden. Wie viel mehr, als Fanatismus und Götzentum war in dieser melodiösen Sprache? Langsam erhob er sich und ging zum Eingang des Skriptoriums, um sich dort eine neue Kerze zu holen. Nachdem er die Kerze erneuert hatte, holte er eine andere Schrift hervor, an deren Übersetzung er schon seit langer Zeit arbeitete. Er tauchte die Feder in das Tintenfässchen und fing mit schwungvollen Bewegungen an, ein neue Blatt mit kunstvollen kem'schen Glyphen zu füllen.
"Die Sage vom Prinzen Achmed al Kamel, dem Liebespilger: Es lebte einmal in Fasar auf der Alhambra ein tulamischer König, dessen einziger Sohn Achmed hieß. Die Höflinge gaben ihm den Beinamen Al Kamel, der Vollkommene, wegen der unzweifelhaften Beweise und der vielen Anzeichen von Klugheit und Charakterstärke, die sie schon in seiner Kindheit an ihm bemerken konnten. Die Astrologen bestätigten in ihren Auskünften die Meinung der Hofleute und prophezeiten dem Prinzen für die Zukunft all das, was einen Herrscher vollkommen, glücklich und beliebt machen kann. Eine einzige Gewitterwolke nur schwebe über ihm, und auch die wäre rosigster Natur, so sagten die sternkundigen Weisen: er würde, meinten sie, sich leicht und heftig verlieben, und in Folge dieser zärtlichen Leidenschaft zu Liebeshändeln und galanten Abenteuern in große Gefahren geraten.
Wenn er aber bis in sein mannbares Alter allen Lockungen und Zartheiten der Liebe fest widerstünde, dann, so meinten die Astrologen weiter, könnten derartige Gefahren und deren Folgen vermieden werden, und das spätere Leben des Prinzen Thronfolgers werde glücklich verlaufen. Um alle derartigen Widerwärtigkeiten zu vermeiden, beschloss der König in seiner Weisheit, den Prinzen in einer Umgebung erziehen zu lassen, wo er nie ein weibliches Wesen zu Gesicht bekäme oder auch nur das Wort Liebe hören könnte. Zu diesem Zweck baute er auf dem der Alhambra gegenüberliegenden Berg einen herrlichen Palast, ließ dort die wundervollsten Gärten anlegen und dann herum eine hohe Mauer errichten. Anlagen und Palast stehen heute noch und sind unter dem Namen ‚Generalife' weithin bekannt und berühmt. In diesem Prunkgebäude wurde der jugendliche Prinz eingeschlossen und der Obhut des Eben Bonabben anvertraut."
Der junge Kemi schaute von seiner Arbeit auf, als er leise Schritte vernahm, die sich ihm langsam näherten.
Schwester Merut'sát kam mit leisen Schritte zu ihm und verneigte sich. "Boron mit dir, Bruder."
Pet'nehem erhob sich und erwiderte den Gruß. Er mochte Merut'sát. Sie arbeitete hier mit ihm zusammen im Skriptorium und der Bibliothek unter Schwester Khirva. Doch anders als er arbeitete sie an den Schriften der Nordländer.
"Die Schwestern Serija und Khirva wollen dich sehen. Der Insel-Mehib ist auch bei ihnen. Ich soll dich zu ihnen bringen."
"Ist etwas passiert?" "Ich weiß es nicht, aber es schien mir wichtig zu sein. Wir sollten uns beeilen."
Was war geschehen? Seit einiger Zeit schon war Mehib Kal'Tan auf der Suche nach einem geeigneten Kandidaten für den Sah und Tempelvorsteher von Mes'Monthu, einem Ort des Boronsglaubens, den er mit Akîb Mahmut ben Abdallah zusammen gegründet hatte, um das Zusammenleben zwischen dem Boronsglauben Kemis und den rastullah-gläubigen Mekábtis zu fördern. Bei dieser Suche stieß er im Herzen Laguanas mehr durch Zufall (oder war es eine göttliche Fügung?) auf den bis dahin relativ unbekannte Ordensbruder Pet'nehem, der sich in Laguana mit der tulamidischen und novadischen Kultur und Sprache beschäftigt hatte. So geschah es, dass auf die Bitte des Mehibs Kal'Tan ni Neu-Prêm hin eben jener Bruder nun mit dem Mehib auf die Inseln reiste, um dort an seiner Seite für die Familien zu sorgen, die die Kirche in Mekabta ansiedelt.