Omjakan ibn Dalash

Akîb Ni Táyâb

Wir schreiben den 20.Rondra im Jahre 15 v. S.G., irgendwann um den höchsten Stand der Sonne: Die Kinder des nahen Dorfes hatten sich wie immer bei der Palmengruppe eingefunden um im Schatten der breitblättrigen Pflanzen allerlei Spielen nachzugehen. Heute beschloßen sie "Hadjiinim und Dukaten-Garde" zu spielen, obwohl man sich über die Verteilung der Manschaften noch nicht ganz einig war, wollte doch wieder einmal keiner die verräterischen Rabenschnäbel spielen.
Nachdem Dajmir, der älterste der kleinen Gruppe, diese Streitfrage so gelöst hatte, daß die Hadjiinim, die natürlich von ihm angeführt wurden, die im Durchschnitt kleineren und schwächeren A1'Anfaner mit Leichtigkeit von den Reisfeldern prügeln konnten, ließ man den schlangenköpfigen Rabenzwergen einige Zeit, um sich in einem geheimen Lager einzurichten. Als Dajmir den Vorsprung der schwarzen Söldner für angemessen hielt, gab er seinen, gutgerüsteten Elitekriegern den militärischen Befehl, den Feind in seinem Versteck aufzustöbern und aus dem Land zu werfen.
Die Stöcke kampfbereit, trat die siegessichere Hadjiinim-Truppe aus dem Palmenhain und arbeitete sich geduckt über ein Reisfeld auf die Gebüschgruppen zu. Es war Zuhal, der als erster eine Beobachtung gemacht hatte: "Da hinten im Gesträuch sitzt einer!" Für die unmilitärische Form seiner Meldung erntete er von den anderen zornige Blicke, über die er aber mit einem zahnlückigen Lächeln hinwegsah.
"Dann, Waffen bereit und Ziel beschleichen!"war Dajmirs neuster Befehl. Nachdem sich die Hadjiinimeinheit nahe genug an das Gebüsch herangeschlichen hatte, war es der dicke Selmo der im gereizten Flüsterton meldete: "Agha Dajmir! Gesichteter ist Zivilist!"
"Is wahr, der gehört nich dazu, das is doch dein Vetter Omjakan? Oder nich, Surkan?" Es war wieder Zuhal, der sich so schamlos über die Regeln des Spieles hinwegsetzte.
"Ja das ist Omjakan." erwiderte Surkan ebenfalls flüsternd.
"Was macht er denn da im Gebüsch?" wollte Rafim wissen.
"Sieht so aus als würde er etwas schreiben." bemerkte Dajmir um sich wieder in Szene zu setzen.
"Nein, er ist erst fünf Winter alt und kann überhaupt nicht schreiben." stellte Surkan richtig.
"Sein Vater hat ihm einmal einen Griffel geschenkt, und seit dieser Zeit sitzt er immer irgendwo rum und beschmiert alles mit irgendwelchen Zeichen, die absolut nichts bedeuten."
"'S weiß doch jeder, daß er verrückt is'!" warf Zuhal eifrig ein, um dieses Mal von Surkan einen zornigen Blick zu ernten.
"Dann woll'n wir dem Kleinen seine Kritzelsucht mal austreiben!" fauchte Dajmir unter einem leisen Lachen und war schon auf das Gebüsch vorgesprungen, ohne auf seine Untergebenen zu warten, die ihm kurze Zeit später todesverachtend nachstürtzten. "Na du kleine Kritzelkrähe!" schrie Dajmir, der sich über dem total überraschten Jungen aufgebaut hatte. "Woll'n doch mal seh'n, was du da so hinschmierst! Gib her!" Mit einer geschickten Bewegung hatte Dajmir dem kleinen dunkelhäutigen Jungen, der voll Angst und bloßer Überraschung vor ihn hingekauert dasaß, den Griffel und den Papyrusfetzen entrissen, den er nun unter hallendem Gelächter vor den Augen des kleinen Jungen hochhielt.
In den Zügen des Kleinen schob sich ohnmächtiges Verlangen vor die Angst, als er mit schwacher Stimme bettelte: "Bitte, der Griffel gehört Omkan, er will ihn wieder haben, sonst tun alle Zeichen sterben, die so gut zusammenpassen tun!" "Sach ich doch, er is total verrückt..." murmelte Zuhal.
Die Blicke aller waren auf den kleinen Jungen gerichtet, der mit weit aufgerissenen Babyaugen auf den kurzen Griffel in Dajmirs Hand starte. Da geschah etwas so unbegreifliches, daß selbst Zuhal keine Worte fand. Der Griffel entzog sich Dajmirs lockerem Griff, erhob sich gut zwei Spann in die Lüfte, um dann in einem kurzem Bogen in die aufgerissene Hand des kleinen Jungen zu fliegen. Dieser umfaßte ihn wonnig lächelnd mit seinen kurzen Fingerchen, sprang auf und stolperte in Richtung Dorf davon. Zurück ließ er fünf Jungen, die beschnitzte Stöcke in den Händen hielten, während sie ihm mit aufgerissenen Mündern nachstarrten.

 

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Wir schreiben das Jahr 6 v. S.G., die gleißende Sonnenscheibe des Praios ist gerade hinter dem Horizont versunken: "Adept Omjakan aus Bakir! Ich bin mir sicher, Ihr wißt, warum ich Euch zu mir rufen ließ?!" Die ernste, aber ruhige Stimme des hoben Lehrmeisters schien wie eine urmächtige Welle über den kahlgeschorenen Jungen in seiner einfachen Leinenkutte hinweg zu branden. "Mir wurde nun schon vermehrt gemeldet, daß Ihr Euch vor allem während einigen Lehrvorträgen durch auswärtige Magier oder während der praktischen Vorführungen zur Artefaktenerschaffung mit studienfremden Gegenständen beschäftigt! Dingen also, die einem ernsthaften Forscher auf dem Pfad der grauen Magie unwürdig sind!"
Omjakan wagte nicht, zu dem weißhaarigen Mann aufzusehen, der seit Jahren als hoher Lehrer über seine Ausbildung wachte und starrte mit gesenktem Kopf auf die Marmorfließen in denen sich der flackernde Schein der Öllampen spiegelte.
"Adept Omjakan aus Bakir! Sagt mir, was sind das für Dinge, denen Ihr Euch da während der praktischen Vorführungen zuwendet?!"
Omjakan fühlte sich unter dem brennendem Blick seines Meisters noch nichtiger, legte aber noch einmal allen Mut in seine Antwort. "Ich habe Gedichte geschrieben, Meister." Wacklig und schwach standen die Worte in der großen Halle, um schon im nächsten Moment von eisiger Stille verschluckt zu werden. Omjakan wagte jetzt erst recht nicht aufzuschauen, spürte aber wie Erstaunen das zornige Unverständniss seines Lehrmeister verdrängt hatte.
Nach einigen Augenblicken die ihm so ewig und still schienen, daß er fürchtete das Schlagen seines Herzens könnte die Mauern der Ha11e zum Einstürtzen bringen, war es wieder die Stimme des Meisters, die in ihrer alten Härte über ihn hinwegtoste. "Als Strafe für Eure Kindereien werdet Ihr sieben Stunden lang über euren Verfehlungen meditieren. Sollte mir noch einmal etwas Negatives über Euch zu Ohren kommen, sehe ich mich gezwungen, Seiner Spektabilität Meldung zu machen. Seid Euch dessen bewußt und geht jetzt!"
Der einfache Stoff seiner Kutte nagte gierig an Omjakans nackter Haut, als er in der demütigen Haltung eines Schülers die Halle verließ.

 

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Wir schreiben den 3.Peraine im Jahre 4 v. S.G., um eine späte Morgenstunde: Langsam und bedächtig ging Omjakan über den Innenhof der Akademie, ließ seinen Blick ein letztes Mal über die zahllosen Erker und Türmchen wandern, fühlte den staubigen Kies, den er noch vor Tagen selbst ausgewechselt hatte, unter seinen Füßen und badete seine Gedanken in den schönsten Erinnerungen an seine Studientage, während er den engen Durchgang zum Vorplatz durchschritt. Dort angekommen eilte er, durch die ersten Häuser der Stadt gelockt, über die sauberen Marmorfließen bis er die staubige Straße erreicht hatte.
Während Omjakan auf die Brücke über den Grünen Mhanadi zuging, war es ihm wie einem, der sich nach einer langen dunklen Nacht wieder an den gleißenden Schein der Sonne gewöhnen muß, so überwältigend war die Flut von Sinneseindrücken die über ihm zusammenschlug. Gerüche nach Meerwasser, Schweiß und süßlichem Dattelwein umtanzten seine Nase, die sich an die kalte, vom herben Dunst der Öllampen durchsetzte Luft gewöhnt hatte. Gleichmäßiges Dröhnen unzähliger Füße vermischt mit dem heißeren Gemurmel, das von den Basaren herüberklang, verdrängte die Stille, die über Jahre seine Ohren erfüllt hatte. Gerade als er ein lehmverputztes Haus passierte, wehte ihm der frisch Seewind eine so wunderbare und zugleich schwermütige Melodie entgegen, daß er begriff, was die wenigen Schritte aus dem Hof der Akademie "Drachenei" für ihn bedeuteten: Schritte hinaus in eine große neue Freiheit.
Er würde überall hingehen, würde neue Länder sehen, unter fremden Völkern leben, andere Sprachen sprechen und den Menschen mit seinem Wissen so gut dienen, wie es das Brandzeichen in seiner Hand erlaubte. Was die anderen Leute dachten, als sie einen kahlgeschorenen, 17-jährigen Jungen, in der einfachen Kleidung eines Magieadepten über die Mhanadibrücke tanzen sahen, war ihm für Augenblicke völlig egal...

 

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Geboren wurde Omjakan vor achtunddreißig Jahren in Bakir. Bereits mit sieben Jahren schickten ihn die Eltern auf die Kunchomer Magierakademie „Drachenei", um sein magisches Talent ausbilden zu lassen. Im Alter von siebzehn Jahren erhielt er seinen ehrenvollen Abschluß und wurde in den Status eines ordentlichen Magiers erhoben. Während seiner Ausbildung hatte er sich dem Schwerpunkt der Artefaktemagie verpflichtet.
Danach entsann er sich eines Lehrsatzes des weisen Rohals, der da gesagt hat: „Geh hinaus und betrachte den Libellenflug - mehr Inspiration magst du dort finden als im Staub von tausend Folianten". Also machte er sich auf die Wanderung und studierte gewiß mehr denn nur den Flug der Libellen. Vierzehn Jahre dauerte diese Lehr- und Wanderzeit durch ganz Aventurien, die Omjakan selbst gerne als seine „Vagabundenzeit" bezeichnet. Nun hatte er Rohals Aphorismus genüge getan und ließ sich in Warunk nieder, zu einem ruhigen und studienbezogenen Leben im Zeichen der Wissenschaft. Im Jahre 14 S.G. siedelte er nach Kemi über, um am Wiederaufbau eines von Al'Anfa zerstörten Reiches mitzuhelfen. Er wurde zum Baron von Táyâb erhoben.
Omjakan ist fortwährend hin- und hergerissen zwischen seinem Interesse an der Politik, den Wandlungen der Gesellschaft und den Problemen dieser Tage gegenüber seiner rationellen Seite als Wissenschaftler und Forscher. Seine Aufgabe als Secha läßt ihm oftmals keine Wahl zwischen diesen beiden Seiten: Die Politik nimmt ihn schon arg in Anspruch. Dafür erntet er aber auch allenthalben nur Lob.
Omjakans Schädel ist kahlgeschnitten bis auf einen Haarschopf, den er gerne als Zopf hoch aufbindet. Omjakan ist privat ein leidenschaftlicher Dichter und Freizeitpoet, vertreibt sich die Zeit aber auch mit Brettspielen - tulamidischer Herkunft. Doch selbst den ruhigen Omjakan können gewisse Themen in Rage bringen: Inquisitoren zum Beispiel, oder fanatische Praiosanhänger. Desweiteren hat er eine starke Abneigung gegen sogenannte Demokraten und das mittelländische Barbarentum.

 

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Omjakan ibn Dalash wurde im Jahre 21 S.G. von einem unbekannten Meuchelmörder getötet. Trotz fieberhafter Suche mit persönlicher Beteiligung seines Freundes, des Kanzlers der Kemi Dio C. de Cavazo, konnte der Täter bisher nicht ausfindig gemacht werden. Omjakan ibn Dalash genießt auch noch Jahre nach seinem Tod - nicht nur in Djunizes, sondern auch in Kirchenkreisen - aufgrund seiner Amtszeiten als Secha verdientermaßen allergrößte Verehrung und Bewunderung.