Elwin

Akîb Ni Rekmehi

Wir befinden uns in einem kleinem Dorf westlich von Punin. Im Moment schreiben wir Travia, und schon seit einigen Tagen ist der Himmel von dunklen Wolken verhangen. Efferds Gnade ist wieder einmal allzu groß und der Regen fällt in ununterbrochenen Schauern vom Himmel. Kaum regt sich irgendwo etwas, alles liegt still da, nur von Zeit zu Zeit öffnet sich die quietschende Tür der einzigen Schenke am Ort und einige Gestalten kommen auf die Straße. So auch jetzt. Wie immer. Doch halt? Was ist das? Welch anmutig Geschöpfe! Zwei hübsche Maiden stehen am Eingang der Schenke und sind in ein Gespräch vertieft. Eigentlich sollte man zwar nicht neugierig sein, doch hören wir einmal, was die beiden so erzähien.
Die Eine, Janne mit Namen: "Oh Idra, wenn hier nicht bald etwas in diesem götterverlassenen Nest passiert, weiß ich wirklich nicht, was ich tun soll."
Idra: "Ja, Du hast recht. Ich habe gehört, daß selbst morgen..."
Der Satz wird durch das mächtige Rattern eines Gefährts unterbrochen und um die Ecke kommt etwas, was man wirklich nicht alle Tage auf Aventuriens Straßen sieht: ein Ferrara! Die sechs Pferde, die das Gefährt ziehen, sind schweißüberströmt (oder ist es nur Regen?) und auf dem Kutschbock sitzt eine wundersame Gestalt: Es handelt sich um einen Mann äußerst kleinen Wuchses, vielleicht acht Spann groß; er trägt eine bunte Leinenhose, Hut mit Glöckchen und einen 1i1a Reitmantel. Der Mann hat einige Mühe, die Kutsche um die Kurve zu 1enken, schlägt aber trotzdem ein haarsträubendes Tempo ein. Man kann beobachten, wie das Gefährt an der Schenke vorbeidonnert, aber schon einige Schritt später aprubt zum Stillstand kommt.


Idra: "War das etwa dieser Elwin? Fährt der immer so?"
Janne: "Nein, nicht immer, aber immer öfter. Ich habe ihn schon einige Male hier gesehen. Oh wie aufregend! Schau nur, er kommt her!"
Der Ferrarafahrer ist inzwischen am Schenkeneingang angekommen. Der Besitzer, dieser - wie hieß er noch? Ach ja, dieser Elwin - springt vom Kutschbock, schließt eine faustdicke Kette um die Kutsche, tätschelt noch einmal die schnaubenden Pferde und wendet sich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht den beiden staundenden Damen zu. "Na, wohin des Weges, Ihr beiden? Ich bin der Elwin. Kommt Ihr noch mit in den..." - er wirft einen Blick auf das Schild über dem Eingang - "...in den Blauen Bären?" Die beiden werfen sich einen Blick zu und folgen ihm in die Schenke.
Drinnen werden die drei von einem warmen Feuer im Kamin und einer guten Stimmung erwartet. Das Feuer fließt, und der Wirt hat alle Hände voll zu tun. Elwin geht zur Theke, bestellt eine Flasche besten Weines, doch der Wirt schnippt gierig mit den Fingern: "Vorauszahlung, werter Herr."


Elwin klopft sich die Taschen ab. Außer ein paar Kreuern scheint er nichts zu finden. "Hört mal her", ruft er und viele Augenpaare ruhen auf ihm, "Wenn jemand die 6er Ferrara draußen haben will, so schlage ich ein Spiel vor. Jeder 1egt einen Si1bertaler in meinen Hut. Dann werde ich euch eine Geschichte erzählen mit einer Unwahrheit darin. Wer sie findet, kriegt die Kutsche!" Er nimmt seinen Hut ab und reicht ihn durch die Reihen. Murmelnd legen einige Leute Münzen in den Hut, es wird ruhig und schon beginnt der kleine Mann mit seiner Geschichte: " Die Geschichte handelt von einem Freund von mir, der mir dies alles berichtet hat. Seine richtigen Eltern sind ihm unbekannt, auch weiß er nicht, ob er Geschwister hat. Er wurde von den Wesen erzogen, die ihr Kobolde nennt. Im Alter von 17 Jahren zog er aus Wehrheim aus, da das Abenteuer ihn lockte. Er ging auf eine lange Reise und schließli ch fuhr er mit einem großen Schiff in Richtung Süden, um sich zu überzeugen, daß die Erählungen über den Krieg wahr seien. Dank seiner überragenden Fähigkeiten auch im Bereich der Magie", Elwin 1ächelt, "hatte er immer das nötige Geld, und so mancher Wegelagerer, der ihn angriff, schrumpfte nachher auf die Größe eines Wiesels zusammen. "Nun ja, er kam irgendwann in der Nähe des großen Regengebirges an. Was ihn interessierte, war nicht der grausige Krieg, sondern die vielen Sachen die es zu sehen gab: riesige Schiffe, große Menschenmassen und einiges mehr. Irgendwo bei dem großen See, Loch Hariwoll, heißt er, glaube ich, kamen doch wirklich diese Grobiane von Leuten, die immer auf der Suche nach Sklaven sind, auf ihn zu, um ihn zu verschleppen. Tja, zwei von ihnen brachte er durch seine magische Begabung zum Stolpern, dann ließ ihn jedoch seine Kraft im Stich. Sie hatten einige Mohas gefangen und führten ihn zusammen mit ihnen in Fesseln durch das Land. Dann kam eine Gruppe Reisender, die bis an die Zähne bewaffnet war, einige thorwalsche Hünen waren unter ihnen, glaube ich, und schlugen dieses Al'Anfaner Pack nieder. Sie befreiten die Mohas und ihn, und er zog mit ihnen. Nun ja, er hatte erst einmal genug von Gefahren und reiste mit dem Schiff bis nach Thorwal. Mit zwei von diesen Leuten aus der Gruppe - einem freundlichem Spitzohr und einem stattlichen Krieger - zog er 1os, um etwas Geld zu verdienen. Von einem Handelsmann bekamen sie den Auftrag, sein Kind aus den Hinden eines gar grauslichen Schwarzmagiers zu befreien. Als sie schließlich in seinen Turm vorgedrungen waren, hatten sie schon viele Gefahren gemeistert, daß es sie nicht einmal überraschte, daß der sogenannte Schwarzmagier keine dunkle Hautfärbung hatte."
Leises Gelächter, ein Ruf: "Vortrefflicher Scherz!"


Elwin fährt fort: "Nun ja, auf jeden Fall meinte der Magus, das Klappern von Geschirr aus seiner Küche zu vernehmen, es war natürlich eine Täuschung, hehe - und so konnte ein Freund meines Freundes, der Krieger, ihn durch einen Schlag mit der Breitseite seines Schwertes außer Gefecht setzen. Sie fanden den Jungen, verabschiedeten sich und waren nachher nicht mehr so arm wie König Mizirion.
Schließlich, ein paar Jahre und Abenteuer später (die aus Gründen der Spannung und Kürze hier nicht alle erwähnt werden), verschlug es ihn noch einmal in den Süden. Er besuchte die Mohas, die mit ihm zusammen befreit worden waren. Nachdem er kurz bei ihnen gelebt hatte, zog es ihn wieder zu seinen Gefährten. Diese waren inzwischen in einer Stadt namens Wehrheim seßhaft geworden. Er ließ einen alten, zerfallenen Stadtturm wieder aufbauen und strich ihn mit rosa Farbe an. Dies sorgte für Unruhe unter den Bürgern, und schließlich teilte ihm der Stadtrat mit, seinen Turm müsse er nach den Stadtgesetzen in einer unauffälligen Farbe streichen. Da er von diesen Gesetzen unabhängig sein wollte, packte er sein Hab und Gut zusammen, verabschiedete sich von seinen Freunden und verließ die Stadt, um ein Land zu suchen, welches anders als das Mittelreich ist und wo er sich, eventuell auf einem Besitz, vielleicht einem Lehen, niederlassen könne."
Hier schließt Elwin die Geschichte und die Zuhörer kommen ins Grübeln. Vorschläge werden gemacht: der Freund sei nie im Regenwald gewesen, der Magier wäre eine Hexe, es gebe in Wehrheim gar keinen Stadtrat oder gar der Turm sei grün bemalt. Keiner der Rater hat recht, da ruft Janne folgendes (das, was Ihr, werte Leserin oder werter Leser, wahrscheinlich schon wißt): "Das war nicht das Leben Eures Freundes, Ihr seid es gewesen, Elwin!"
Elwin 1acht, bestellt sich von dem Geld rasch den Wein, faßt Janne am Arm und geht mit ihr zur Tür. "Na dann komm", sagt er, "aber wie wäre es, wenn wir vorher noch einen kleinen Spaziergang machen, wir können ja dann noch über die Kutsche reden!" Er zwinkert Janne zu und die beden verlassen Hand in Hand die Schenke.

 

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Schnell erkennt jedermann, daß für den stets fröhlichen und gutgelaunten Elwin das Lachen und der Schabernack einen hohen Stellenwert haben. Das kommt gewiß nicht von ungefähr, denn seine karottenroten Haare und sein Wesen verraten: Er ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Schelm.
Wie das Schicksal so spielt, wurde Elwin kurz nach seiner Geburt von Kobolden aus der Wiege geraubt und gegen ein Koboldkind vertauscht. Wie es seinen Eltern mit diesem Balg erging, weiß er nicht, wohl aber, daß er selbst siebzehn Jahre lang bei den Kobolden in einer Höhle wohnte, ehe er auszog, die Welt kennenzulernen. Er zog von Stadt zu Stadt und erlebte mit großen Augen die Wunder dieser Welt. Zahlreiche Abenteuer mußte er bestehen (wie gewiß auch viele Menschen solche mit ihm erleben mußten ...), ehe er sich um ein Lehen in Kemi bewarb - un zur Überraschung aller erhört wurde (die Nisut muß wahrlich einen guten Scherz zu würdigen wissen!)
Der schelmische Baron, der wohl kleinste von Gestalt unter den menschlichen Baronen Kemis, verabscheut jede Form von Gewalt. Er lehnt den Namenlosen entschieden und gar nicht witzig ab, und Miesmacher, womöglich schlechtgelaunte und humorlose, kann er nicht ausstehen - was vermutlich heißt, daß er sie unter seinem Wesen leiden läßt ...

 

***
 

Elwin war ein überraschend fähiger Baron. Er legte die Grundlagen zum Aufblühen der Provinz Rekmehi, die heute das sicherste und wohlhabendste Gebiet in Terkum ist. Doch im Jahre 18 S.G. überkam ihn wieder die Reiselust, so daß er allen Ämtern und Titeln entsagte und sich aufmachte, neue Länder und Menschen kennenzulernen...