Dhana Chesaî'ret

Mehibet Ni Terkum

Ránebet Dhana nestelte an den Riemen, die Brust- und Rückenteil ihres Hartholzharnisches verbanden. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Ihre Stute legte nervös die Ohren zurück und begann zu tänzeln, ganz so als spürte sie die Erregung ihrer Reiterin. Nun zog sie langsam die Schlaufe immer enger, bis der Dorn der Schnalle durch das vorletzte Loch glitt. Sie schloß kurz die Augen und atmete dann entschlossen ein. Die spitzen stählernen Dornen, die an der Innenseite des härenen Hemdes befestigt waren, das sie unter dem Harnisch trug, drangen ihr an Brust und Rücken tief ins Fleisch. Dhana begrüßte den brennenden Schmerz wie einen alten Freund. Er würde ihr helfen, stark und gelassen zu bleiben, wenn sie in das Dorf dieser verhaßten Wilden kämen. Und gelassen bleiben mußte sie unter allen Umständen. Nicht nur, weil es ein Verstoß gegen die Ordensregeln wäre und somit per se eine schwere Sünde, sondern vor allem, weil sie es den ungläubigen Wilden nicht gönnen wollte, sie schwach zu sehen. Niemals würde sie ihnen zeigen, wie sehr sie sie haßte, wie sehr sie ihre leichtfertige, respekt- und zügellose Lebensart verabscheute, ihre Wollust, ihre fehlende Demut vor dem Hl. Raben und seinen Dienerinnen und Dienern.
Dhana fühlte, wie ihr das Blut den Rücken hinabrann, bevor es von dem groben Stoff des Hemdes aufgesogen wurde. In der brütenden Hitze war es längst schweißgetränkt, und das Salz brannte nun heftig in den frischen wunden. Ja, dies mußte genügen, um ihren Zorn zu beherrschen. Ihre Entscheidung, die angespitzten Holzspäne, die sie eigens vorbereitet hatte, um sie unter die Haut ihrer Unterarme zu schieben, nicht zu verwenden, war klug gewesen. Wer weiß, ob sie sie nicht noch brauchen würde, falls der Schmerz durch die Dornen nach einer Weile nicht mehr stark genug wäre. Eine Angst, die sie seit neuestem bisweilen plagte - daß es dereinst nichts mehr geben könnte, was stark genug wäre, um ihr die Kraft zu geben, die sie brauchte, um sich beherrschen zu können. Oder - und das wäre ungleich schlimmer - daß die Daimonen des Schmerzes sie besiegten, wie es schon einmal geschehen war, damals am Anfang ihrer Karriere als Inquisitorin, als sie noch nicht genau hatte einschätzen können, wie stark ihre selbstzugefügten Qualen sein mußten, um den Verlockungen des Haß-Daimons zu widerstehen. Sie hatte tagelang keine Nahrung zu sich genommen, sich unablässig gegeißelt und war am Ende so geschwächt gewesen, daß sie während der Befragung des Sünders ohnmächtig geworden war. Oh, wie mitleidig sie alle getan hatten, diese weisen Schwestern und Brüder des Ordens, als sie nach vielen Tagen aus dem Fieberdelirium erwacht war, doch sie, Dhana, hatte den Triumph und die Schadenfreude in ihren Augen gesehen. Damals hatte sie sich geschworen, daß es nie wieder dazu kommen sollte. Von nun an wollte sie vorsichtig und maßvoll sein. Nie wieder sollte ein Sterblicher ihre Schwäche sehen.
Leise zitierte sie den Wortlaut des achten Dars: "Die Ritterin sei sich allzeit gewahr, daß sie sterblich und gering vor dem Angesicht des Herrn. Sie erniedrige sich deshalb durch Geißelung und Buße. Sie erlerne Bescheidenheit und Demut (bei diesen Worten berührte sie leicht ihre linke Wange, auf der das kem'sche Zeichen der Demut eintätowiert war), denn nichts ist der Mensch vor dem Herrn. Die Ritterin mag freiwillig den Weg der Fünf Tage gehen, auf daß sie besonderes Wohlgefallen vor dem Herrn erlange. Wer hierin aber versagt, der sei den Niederhöllen anheimgefallen! Dies aber ist der Schmerz." Ránebet Dhana faßte die Zügel ihrer wild schnaubenden Stute kürzer und atmete noch einmal tief durch. Die Schmerzen durchfuhren sie wie glühende Nadeln und beinahe lächelte sie. Ja, so würde sie diesen Tag meistern. Sie war Inquisitorin, der Herr würde sie leiten...

***

Ránebet Dhana ließ ihren Blick über die vom Morgennebel bedeckten Felder schweifen. Endlich lag der Wald hinter ihnen. In der Ferne konnte sie bereits die Palisaden Djásets erspähen. Kurz flackerte in ihr die Lust auf, ihrer Stute den Kopf freizugeben, ihren Ordensleuten den Befehl zum Angriff zu geben, und diesen verrotteten Koben des Unglaubens und der Wollust einfach niederzubrennen. "Herr, oh Herr! Stärke uns! Auf daß wir zerschmettern die Ungläubigen. Ihr Blut soll vergossen werden, ihre Häuser verbrannt, auf daß keine Spur mehr bleibe." Ihre Lippen formten lautlos diese alten kem'schen Worte, die bereits vor mehr als dreitausend Jahren von ihrem Volk gerufen worden waren. Zwar untersagte damals wie heute der Hl. Rabe die Missionierung der Ungläubigen durch Feuer und Schwert, doch Dhana wußte, daß Irr- und Unglauben stets nur einen Schritt von Häresie und Ketzerei entfernt lagen, und allzu leicht konnten schwache Seelen diese Linie überschreiten und sich damit in ewige Verdammnis stürzen. Und diese gefallenen Seelen lauerten all überall. Selbst auf dem heiligen Rabenthron! Als die nisutliche Schlange die Nachfolge ihrer unwürdigen Brut bekannt gegeben hatte, da hatte sie einen Moment lang ihr wahres Gesicht gezeigt, und sie, Dhana, hatte es erkannt. Nun brach also die Zeit der letzten, alles entscheidenden Schlacht an, an dessen Ende der herrliche Rabe über die grausigen Geschöpfe der Niederhöllen triumphieren würde.
Dhana zitterte vor Erregung, als sie sich die grausam entstellten Leiber der Verderbten vorstellte, die von ihren daimonischen Fürsten in die ewige Verdammnis gerissen wurden, als sie auf einmal ihren eigenen Körper dort erblickte. Entsetzt schloß sie ihre Augen, doch die Bilder tanzten höhnisch vor ihrem Geist. Sie sah den verstümmelten Leib ihrer Mutter, die Gliedmaßen grotesk verzerrt, teils abgerissen vom Rumpf, ganz so, wie damals im Augenblick ihres Todes. Mit einem blutigen Finger deutete sie auf Dhana, und ihr Mund verzerrte sich zu einem triumphierenden Grinsen. "Du bist verflucht in alle Ewigkeit. Denn du bist mein Fleisch und Blut. Meine Sünde lebt in dir fort. Du wirst niemals entkommen, Verdammte!"
Dhana zwang ihre Augen sich zu öffnen. Die Schreckgestalten verblaßten im sanften Zwielicht des Morgens, doch die eisige Klaue, die ihr Herz umkrallt hielt, wollte nicht weichen. Wieder war sie dem Hochmut erlegen, wieder hatte sie allen Ernstes geglaubt, sie könne der Versuchung ohne Mühen widerstehen. Keine Dornen, keine Späne, keine Gewichte - oh, wie hatte sie nur so überheblich sein können. Mit einer leichten Bewegung zog Dhana ihren Dolch aus dem Gürtel und stieß ihn sich tief in die Handfläche. Ihr bleiches Gesicht verriet keine Regung, als das rote Blut aus der Wunde quoll und über den Hals ihres Pferdes in den wabernden Nebel tropfte.
Nechát Mer'feri Semá'tep blickte entsetzt auf den blutigen Dolch in der Hand der Ránebet, doch als sie ein Blick aus deren Augen traf, hielt sie es für ratsamer darüber hinwegzusehen. So deutete sie nur kurz nach Osten zum Fluß, wo sie gerade eben eine Bewegung wahrgenommen hatte. Dhana schaute in die angewiesene Richtung und erkannte eine kleine Gestalt, die sich rasch entlang der Flußböschung auf die Stadt zubewegte. "Was immer da läuft, es wird uns nicht entkommen. Wir dienen dem herrlichen Raben. Er ist der Richter, er ist der Rächer. Keine Seele, ob sterblich oder unsterblich, entkommt seiner Macht. Niemand." Die letzten Worte flüsterte sie beinahe, und ihre von tiefen Schatten umwölkten Augen schienen geradewegs durch Mer'feri hindurch zu blicken. Die junge Inquisitorin schlug beschämt die Augen nieder und zügelte ihr Pferd, um sich wieder hinter Dhana einzureihen, als die Ránebet sie erneut ansprach. "Bleib neben mir, Tochter. Wir nähern uns einem schieren Bollwerk des Unglaubens. Doch dürfen wir nicht zaudern noch zagen. Wir sind Inquisitorinnen - der Herr leitet unseren Weg."

***

Erschöpft schnaubend senkte die nachtschwarze Stute den Kopf, um dem steinigen Boden ein paar harte Grashalme zu entreißen, während ihre Reiterin einige Schritte bis zum Rand der Hügelkuppe ging und schweigend hinabschaute. Nichts unterbrach die friedvolle Stille außer den vereinzelten Rufen der Tiere des Waldes unter ihnen und dem allgegenwärtigen Summen der Insekten. Die Stute machte zwei vorsichtige Schritte zu einer Vertiefung, die sich im Laufe der Jahrhunderte ins Felsgestein gegraben und in der sich verlockendes Regenwasser gesammelt hatte. Dankbar senkte sie den Kopf, und ihre weichen Nüstern zitterten begeistert, während sie in langen durstigen Zügen trank. Rasch warf sie einen Blick auf ihre Reiterin, wußte sie doch aus Erfahrung, daß diese es nicht sehr schätzte, wenn sie sich ohne Befehl von der Stelle bewegte, aber heute war sie offensichtlich zu abgelenkt, um sie für ihre Ungeduld zu bestrafen. Ihre feinen Ohren spielten, als sie unvermittelt ein fremdes Geräusch vernahm. Ganz leise erscholl die Stimme ihrer Reiterin, doch galt sie weder ihr, noch waren andere Zweibeiner anwesend, denen sie wie üblich in harschen Worten Befehle erteilte. Auch klang ihre Stimme irgendwie anderes als sonst, weicher, melodiöser. Die Stute beschloß, den günstigen Augenblick zu nutzen, denn sie hatte einige Schritte weiter in einer Senke noch frischere Gräser erspäht. Energisch schlug sie mit dem Schweif, um die lästigen Stechmücken für den Bruchteil eines Augenblickes zu verscheuchen und machte sich auf, ihren Hunger zu stillen.

Dhana Chesaî'ret ließ ihren Blick, der so oft schon stechend und unerbittlich auf einem vermeintlichen Sünder gelegen hatte, über die Wälder und Ebenen Táyarrets schweifen. In der Ferne glitzerte das Meer im Schein der Praiosscheibe, unter ihr durchzog der Khetemifluß wie ein breites braunes Band das ewige Grün des Dschungels. ‚Tá'hatep', dachte sie stumm, ‚Land des Sonnenunterganges', ‚Land des Friedens', ‚Land des Blutes'. Das Land meiner Ahnen, mein Land ... Demütig im Glauben, unbarmherzig im Kampfe - Chesa-rê! Ein Schauer durchlief die junge Frau, so als fühle sie die Anwesenheit der seligen Toten, die an diesem Orte vor so vielen Jahrhunderten gelebt und gekämpft hatten. Auf einmal schien alles so klar. Mit einem Mal verstand sie die Worte des Erhabenen Abtes. Ja, Vater, wir müssen stark verwurzelt sein hier auf Deren, hier in Kemi, um in der letzten Schlacht zu bestehen. Wenn die Ungläubigen unser Land mit ihrem Unflat zu überschwemmen trachten, dann müssen wir stehen und kämpfen bis zum letzten Atemzug. Jetzt konnte sie es fühlen. Dies hier war ihr Land. Hier würde sie stehen, hier konnte sie stark sein, denn dieses Land gehörte zu ihr, wie das ach so bittere Blut, das in ihr floß. Verdammt bist du, Sünderin! Noch immer dröhnten diese Worte in ihrem Geiste, doch mit ihnen erklang eine neue Saite. Stolz!
‚Die Ritterin erforsche die Vergangenheit des Kemi-Reiches und all jene Dinge, die sich ihr hierdurch offenbaren. Die Ritterin strebe nach Wissen und achte dabei auf den Willen des Herrn, denn dieser leitet eine jede Gläubige, auf daß sich jede der Aufgabe widmen möge, für die sie der Herr geschaffen hat. Dies aber ist die Klugheit.' Mit einem Male schienen die Worte des Heiligen Laguan einen Sinn zu ergeben. Zwölf Dars für zwölf Zeitalter, nur in ihrer Verbindung ergaben sie eine Einheit. Demut allein ist Sünde, denn sie führt zu Hoffart. Oh, und der Heilige Rabe wußte, wie hoffärtig sie gewesen war. Doch nun hatte sie einen winzigen Bruchteil dessen erahnt, was es bedeutete, IHM zu dienen, SEINEM Land. Sie war Chesa-rê - die letzte ihres Geschlechtes.
Nichts war zufällig. Nicht länger durfte sie in eitler Demut verharren, die letzte Schlacht stand unmittelbar bevor. Wie sträflich hatte sie ihre Pflicht vergessen, unter dem Mäntelchen der Demut hatte sie die Todsünde der Eitelkeit begangen. Doch nun waren ihre Augen geöffnet worden, sie hatte gesehen. Vor wenigen Tagen erst war sie die dunklen, staubigen Stufen in die Gewölbe der alten Totenstadt hinabgestiegen, die bei den Grabungen um Ujak entdeckt worden war. Und dort, unter Äonen von Stein begraben, hatte sie die Wurzeln ihrer Herkunft entdeckt. "Sei achtsam, Tochter, der Geist der Vergangenheit ist stark." So hatte die Äbtissinprima Caja Sá'kurat noch zu ihr gesprochen, als sie sie am Fuße der Treppe verlassen hatte. Die Schriftzeichen hatten vor ihren Augen geflimmert, der Schein der Kerze hatte kaum ausgereicht.
Doch dann hatte sie gelesen, Zeichen für Zeichen. Stunde um Stunde hatte sie dort gekniet, begleitet nur vom Pochen ihres Herzens, beseelt vom Geiste ihrer Ahnen. Worte, die von Mut, Kampf und Stolz kündeten, aber auch Worte der Demut, des Glaubens, der Liebe. Worte, die bis in das Innerste ihrer Seele vorzudringen schienen und dort etwas anrührten, das sie längst vergessen geglaubt. Sie hatte salzige Feuchte geschmeckt und zunächst nicht gewußt, woher sie rührte, bis sie begriff, daß sie von den Tränen stammte, die ihre Wangen hinabliefen. Zornig über diese Schwäche hatte sie ihren Dolch gezogen, um ihn sich tief ins Fleisch zu rammen, als sie mit einem Mal inne gehalten hatte. Wie gedankenlos hatte sie all zu oft ihr sündiges Blut auf den Boden tropfen lassen, doch hier, hier an dieser geheiligten Stätte wäre es einem Sakrileg gleichgekommen - ohne die Rituale der Reinigung, ohne die Gebete, ohne die segnende Anwesenheit eines Priesters. Wie blind war sie gewesen, wie unsagbar blind.
Die Nacht war längst vorüber und der neue Tag halb vergangen, als sie erschöpft, aber von neuer Kraft durchströmt die Stufen wieder hinauf gestiegen war. Mit glänzenden Augen war sie zum Tempel geschritten, aufrecht, schweigend. Die Äbtissin hatte nur wissend gelächelt, als sie vor der Statue des Heiligen Raben zu Boden gesunken war, und erst als die letzten Strahlen der Praiosscheibe hinter den Gipfeln der Berge versunken waren, hatte sie sich wieder erhoben, ihre Stute gesattelt und war ohne ein weiteres Wort davon geritten. Nun lag das einstmals mächtige Ujak hinter ihr, und sie stand im Licht des neuen Tages. Ganz leise stimmte sie die ersten Klänge des siebten Chorales an, die Stimme zunächst rauh und ungeübt, doch dann mit jedem neuen Atemzug klarer und voller, bis sie sich selbst zu tragen schien. Als sie geendet hatte, sank sie auf die Knie und zog andächtig ihren schwarzen Dolch, dessen Klinge so oft bereits ihr eigenes Blut vergossen hatte. Doch während ihre Finger leicht über die eingravierten Glyphen fuhren, schob sich das Bild eines anderen Dolches vor ihre Augen. Die Klinge aus Bronze, das Heft geschwärzt. ‚Demütig im Glauben, unbarmherzig im Kampfe.' Die Augen eines jungen Mannes, schwarz wie ihre eigenen. Dieb hatte sie ihn geschimpft, Lügner. Oh Hochmut!
Entschlossen stand die Inquisitionsrätin auf, schob die Klinge zurück in die Scheide und ging zu ihrer Stute, die alarmiert aufschaute. Mit einem Satz saß sie im Sattel, nahm die Zügel an und drückte ihr die Sporen in die Flanken. Sie durfte keine Zeit verlieren, die letzte Schlacht stand bevor!