Derya Liza Setepen

Mout'nisut

Mout'nisut Derya Liza Setepen.
Portrait aus dem Jahre 2 S.G.

Mysterien und Legenden ranken sich um die nisutliche Großmutter wie um keine zweite Person innerhalb der Grenzen des Káhet Ni Kemi. Wer weiß schon, ob sie tatsächlich die leibliche Tochter Marbos, ob sie eine Vampirin oder gar eine Gesandte des Rabengottes selbselbsten ist?
Ihr Auftreten macht die alte Frau nicht weniger mysteriös: Sie sieht sicher zehn Jahre älter aus als sie ist, gekrümmt ist ihr stetiger, niemals ermüdender Gang und aus leeren, schwarzen Augenhöhlen scheinen doch Blicke zu stechen, die bis auf den Grund einer Menschenseele zu schauen vermögen. Ihre Ausstrahlung übertrifft die ihrer Tochter noch deutlich, obwohl von Deryas einstiger Schönheit unter den zahllosen Falten wenig geblieben ist. Selten spricht die Großmutter der Nisut, doch ihre Worte wählt sie knapp und mit Bedacht, und wenn sie spricht, so scheint es unumstößliche Wahrheit zu sein, die an die Ohren der Zuhörerinnen und Zuhörer dringt. Derya Liza wirkt zufrieden und glücklich, sie hat ihren Frieden mit ihrem göttlichen Herrn gemacht. Fragt man sie, welchem Zweck ihr Leben noch dient, so erhält man zur Antwort nur ein unergründliches Lächeln, aus dem die Weisheit des Alters und des Glaubens spricht.
Derya Liza Setepen, die "bornländische Schneiderin", ist von Geburt reinblütige Kemi, floh aber als kleines Kind mitsamt ihrer freiheitsliebenden Familie vor den Repressionen der Besatzer in den hohen Norden des Kontinents. Dort lernte sie ihren Gemahl kennen, dort schenkte sie ihrer Tochter Peri das Leben und unterwies sie in den Lehren des Rabens und der Geschichte und den Traditionen ihrer fernen Heimat. Wie sie selbst sagt, war der Tag ihrer Rückkehr glücklichste Tag ihres Lebens, und von diesem Glück, so sagt sie, zehre sie heute noch.
Derya tritt nie auf Gesellschaften auf, die Politik und die alltäglichen Geschäfte der Regierung meidet sie. Sie ist die Hofgeweihte am nisutlichen Hofe zu Ynbeth, und diese Pflicht nimmt sie mit Sorgfalt und Gelassenheit wahr, immer hat die alte Frau ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der ratsuchenden Gläubigen. Als die verderbten Schergen Honaks das Reich besetzten, da blieb sie in Ynbeth, und niemand stellte diesen Entschluß in Zweifel, es schien für Derya Liza die einzige Wahl zu sein. Sie zog in die Städte und Dörfer, und dort verhinderte sie nicht nur das eine oder andere Massaker, einzig durch ihr Erscheinen, sondern segnete auch bisweilen gläubige Söldlinge des Feindes, denn sie kennt nur die Wahrheit der Herzen, möge diese auch durch eine schlechte Sache für das Böse verborgen werden. Ihr ist es zu verdanken, daß die Befreiung vom al’anfanischen Joch nicht so blutig wurde wie befürchtet, und sie war es auch, die Jahre ihres Lebens gab, als sie die Horden der Finsternis hinderte, das Portal der laguanischen Gewölbe zu durchschreiten: Stark und unerschütterlich stand sie da und sprach Worte einer Sprache, die niemand mehr versteht, während der tobende Daimon Merkan und seine Hunde des Krieges an ihrem Leib zerrten und doch der heiligen Frau unterliegen mußten.
So zieht die alte Geweihte auch heute noch furchtlos durch die entlegensten Winkel der Dörfer und Städte, unbedrängt selbst durch die schlimmsten Schurken und Halsabschneiderinnen, eine geringe Dienerin der Allheiligen Boronskirche, Mutter unserer Nisut, Großmutter der Enkelinnen Ela, die dereinst Nisut werden wird, und Rhônda, deren Geburt Deryas Augenlicht schlagartig erlöschen ließ.